Die pontische Lyra

Aufbau und Beschaffenheit

Das wichtigste Musikinstrument der Pontier ist die Lyra. Sie hat keine Ähnlichkeit mit der uns bekannten Harfe, die ebenfalls diesen Beinamen trägt.
Die Lyra hat drei Saiten und wird mit dem Bogen gespielt. Ihr Klangkörper wird aus dem harten Holz des wilden Pflaumen- oder Mirabellenbaumes, der Akazie oder aus Nussbaumholz hergestellt. Er ist an den Seiten und hinten abgeschrägt. Der Deckel der Lyra (der vordere Teil) ist aus Tannenholz. Der Bogen wird aus Olivenholz gefertigt und die Saiten aus dem Schweifhaar eines männlichen Pferdes. Es gibt sogar einen entsprechenden Zweizeiler über die Herstellung der Lyra:

To Xylom en Kokkímelon – To Doxárim Eliá
(Das Holz ist vom Pflaumenbaum – der Bogen aus Olivenholz)

Die Maße einer Lyra sind nicht immer völlig gleich. Eine gewöhnliche Lyra hat im Durchschnitt eine Länge von ca. 50 cm, eine Breite von maximal 9 cm und eine Tiefe von 4 cm.
Früher wurden die Saiten aus Tierdarm oder Seide hergestellt. Heute werden Stahlsaiten benutzt. Eine der drei Saiten ist gestimmt wie die H-Saite einer Gitarre, die beiden anderen wie die A-Saite einer Violine. Die H-Saite ist die hohe Saite, während die beiden A-Saiten die mittlere und die untere sind. Die pontische Lyra wird in Viertel-Intervallen gestimmt. Das Stimmen beginnt mit dem hohen Ton (sil) und dem tiefen (kapán). Dadurch wachsen die musikalischen Möglichkeiten in hohem Grad. Die Folge davon ist, dass die Lyra alle anderen pontischen Musikinstrumente dominiert.
Die wichtigsten Teile, aus denen eine Lyra besteht, sind der Kopf, die Wirbel, der Hals, der Klangkörper, der Steg, die Saiten und der Bogen. Die heutige pontische Lyra unterscheidet sich stark von der alten Lyra, und zwar sowohl in ihrer Form als auch in der Art und Weise der Erzeugung der Töne. Die großen alten Lyras spielen in tiefer, die kleineren neueren in hoher Stimmlage. Normalerweise wird in Akkorden gespielt. Die Lyra ist ein Instrument ohne Bünde. Und die meisten Lyraspieler sind auch aus diesem Grund Autodidakten.

 

Geschichte und Mythos

Die ersten bekannten Abbildungen der kretischen Lyra datieren um zwei- bis dreitausend Jahre v. Chr. Es handelt sich um szenische Darstellungen des Lyraspiels, aber es wurden auch Statuetten von Sängern gefunden, die das Instrument einfach in Händen halten. Aus der antiken griechischen Mythologie erfahren wir, dass der Gott Hermes die erste Lyra herstellte: aus Tierpanzer und drei Zweigen, die er zu "süß klingenden Saiten" spannte.
Die Lyra durchlief während ihrer 5.000-jährigen Geschichte mehrere Entwicklungsstadien. Ihre erste Bezeichnung lautete Phyrminx. Wahrscheinlich wurde die 4-saitige Phyrminx Lyra des Hermes genannt. Aus dem 8. Jahrhundert n. Chr. kennen wir eine monosaitige Lyra mit Bogen. Die folgenden Veränderungen an der Lyra betrafen die Erhöhung der Zahl der Saiten und Modifikationen an der Form des Klangkörpers. Vom 10. bis 15. Jahrhundert n. Chr. wurde dieses Instrument in Europa Fidel genannt. Im 15. Jahrhundert n. Chr. tauchte der Name "Lyra" wieder auf. Es entstand eine Familie von Lyras unterschiedlicher Größe, Form und Saitenzahl. Eine dieser Lyras war die Lyra da braccio. Nach ihrer Vervollkommnung durch italienische Künstler wurde sie Violine genannt.

 

Die Lyra im Pontos

Von den Schwarzmeergriechen wurde das Instrument jedoch wieder vereinfacht; und diese Variante nannte man Pontische Lyra. Eine noch frühere Entstehung der schlichten pontischen Lyra, etwa zu Zeiten der Entwicklung der "Fidel", ist auch nicht ganz auszuschließen. Die griechischen Pontier, die im osmanischen Reich, der heutigen Türkei, angesiedelt waren, nannten die 3-saitige Lyra Kementsés und die 8-saitige Kemanés. Der Kemanés hat fünf oben liegende Saiten und drei unterhalb dieser fünf. Der Bogen spielt nur die fünf oberen Saiten und versetzt dadurch die unteren in Schwingungen. Die Gründe für die Gleichsetzung von Lyra und Kementsés sind vermutlich in dselben Zahl der Saiten und derselben Art und Weise, sie zu spielen und den Bogen zu halten zu suchen. Aber auch die durch die Kontakte zwischen griechischen Pontiern und dem osmanischen Volk bedingte Sprachvermischung kann eine Rolle gespielt haben. Dass in der pontischen Überlieferung ein und dieselbe Person die Lyra spielt, singt und tanzt, zeigt deutlich die Einflüsse des musikalischen Brauchtums im antiken Griechenland. Der Kementsés mit seiner länglichen Form ist dagegen der anatolischen Spielweise angepasst, bei der der Spieler sitzt und die Beine kreuzt. Die Form dieses Instruments schließt das Spiel in aufrechter Haltung, wie es für die pontische Lyra typisch ist, aus.

 

Die zeitgenössische Verbreitung

Die pontische Lyra wird heute auch außerhalb der Grenzen Griechenlands gespielt, besonders an den Küsten und im Hinterland des Pontos, und von den zurückgebliebenen Klostí (die gewaltsam islamisierten Pontier, die dennoch heimlich am Bewusstsein ihrer pontischen Herkunft sowohl in politischer als auch in religiöser Hinsicht festhielten und festhalten). Sie wird auch von den in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion angesiedelten Pontiern und von den Nachkommen der Pontier in Australien, Amerika und Europa (besonders in Deutschland) gespielt. Vor einiger Zeit haben pontische Musikstudenten verstärkt angefangen, die pontische Musiktradition systematisch wissenschaftlich zu erforschen, insbesondere wie sie von der pontischen Lyra interpretiert wird. Besonders hervorzuheben ist hier der Musikstudent Ilias Papadopoulos von der Aristoteles-Universität in Thessaloniki.

Andere wichtige pontische Musikinstrumente sind: Angíon (Dudelsack, Schalmei), Schilávr (Flöte), Sournás (Klarinette) und Daoúli (Pauke).

 
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